Moralphilosophie vs. Marxistische Tierbefreiung
- tierrechtsradio
- Feb 8, 2023
- 7 min read
Zweiter Teil der Rubrik zum Thema Marxismus und Tierbefreiung; dieses Mal zum Historischen Materialismus und Thesenpapier vom Bündnis Marxismus und Tierbefreiung.

Info: Im ersten Teil der Rubrik zu diesem Thema haben wir uns mit einem Interview befasst, welches das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung mit dem italienischen Philosophen Marco Maurizi geführt hat. Maurizi ist quasi “Vorreiter” der marxistischen Tierbefreiungsbewegung, und auf seine Thesen stützt sich auch das Bündnis in seinem Thesenpapier. Unseren Beitrag zum Interview könnt ihr euch auf Soundcloud unter Tierrechtsra anhören, und wir werden euch sowohl das Interview mit Maurizi als auch das Thesenpapier in den Shownotes zu dieser Sendung verlinken.
Nachdem wir uns letztes Mal mit der Rolle von subjektiven Gefühlen im Tierrechtsativismus befasst hatten, geht es also heute weiter mit etwas Konkretem: nämlich dem Historischen Materialismus. Dieser ist ein zentrales Konzept in der marxistischen Philosophie, und er ist auch sehr wichtig im Zusammenhang mit der Tierbefreiung - weil er unsere Beziehung zu Tieren quasi herleitet und erklärt.
Worum geht es also im Historischen Materialismus?
Schauen wir uns dazu erstmal den Begriff “Materialismus” an. Man muss wissen, dass es in der Philosophie - spätestens seit den alten Griechen - zwei grosse Denkströmungen gibt, den Materialismus und den Idealismus. Beide gehen davon aus, dass es in der Welt - seit Anbeginn der Zeit - quasi 2 Realitäten gibt: eine materielle und eine ideelle, also geistige.
Die materielle Realität ist alles, was irgendwie aus Materie besteht - alles, was fühlen, hören und sehen können, also (also Erde, Luft, Nahrung, andere Menschen etc.) Die ideelle Realität, auf der anderen Seite, ist alles, was sich in unseren Köpfen befindet: Ideen, Konzepte, Gedanken, Spiritualität und so weiter. Die grosse Frage ist nun: Welche Realität war zuerst da? Welche ist wichtiger für die Entwicklung von Mensch und Bewusstsein? Ist es die materielle Realität, die unsere Gedanken formt - oder sind es viel mehr unsere Gedanken, unsere inneren Überzeugungen, die die materielle Welt formen…?
Die Materialist:innen sind nun diejenigen, die an ersteres glauben: Es ist die materielle Realität unserer Körper, der Welt, die uns umgibt - und unsere Interaktion mit dieser - die uns zu dem machen, was wir sind. Idealist:innen glauben das Gegenteil, also dass sich die Welt aus “unserem Inneren” entwickelt. Früher war das noch sehr von Religion geprägt; am Anfang stand für die Idealisten eben DAS WORT oder Gott.
Einer dieser Idealisten war Hegel, von dem habt ihr sicher schon gehört. Als Christ glaubte er, dass am Anfang DAS WORT (also nicht die Materie) stand - ABER er glaubte eben auch, dass es da eine komplizierte Beziehung zwischen den zwei Realitäten gibt. Seiner Meinung nach konnte man nicht einfach sagen “das eine produziert das andere” - und fertig. Das war ihm zu einfach. Vielmehr wurde doch das eine vom anderen beeinflusst und umgekehrt, das musste er irgendwie formulieren. Also führte Hegel die Dialektik ein; eine philosophische Methode, die sich eben auf die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Realitäten konzentriert.
Dialektik kann man sich übrigens mit “Dialog” merken: Bei Hegel stehen die materielle und die immaterielle Realität im Dialog, und so beeinflussen sie einander gegenseitig.
Nun kommt also Marx, der übrigens ein Schüler von Hegel war, und “bedient” sich dieser Dialektik. Er sagte, also sinnbildlich: “Ich bin zwar Materialist, aber mir ist das auch viel zu einfach. Ich möchte meinen Materialismus gerne so erklären, wie Hegel seinen Idealismus erklärt hat: nämlich nicht schwarz-weiss sondern mit all seinen Grauzonen. Die materielle Realität war zwar zuerst da - ich bin ja kein Christ - aber trotzdem wirken auch unsere inneren Ideale auf diese materielle Realität ein und umgekehrt!"
So war der Dialektische Materialismus geboren.
Das bringt uns zurück zum Historischen Materialismus, um den es ja heute geht. Dieser “bedient” sich nämlich auch an der Dialektik von Hegel, nur dass er die Methode auf die Geschichte anwendet. Er besagt, dass es v.a. die materiellen Umstände sind, die unsere Geschichte beeinflussen - aber eben nicht nur. Unsere Ideale können sich, wenn sie denn einmal geformt sind, auch wiederum auf die Geschichte auswirken - es geht in beide Richtungen. Das ist gerade in der politischen Theorie des Marxismus natürlich sehr wichtig, denn wie sonst sollten wir als Arbeiterklasse mit ihrem Kampf die Geschichte beeinflussen - den Kapitalismus überwinden - wenn nicht auch unsere Ideale einen Einfluss auf die harte, materielle Realität haben könnten?
Wenn Marxist:innen sich also auf den Historischen Materialismus beziehen, meinen sie, dass Gesellschaft und Geschichte als ständige Bewegung stattfinden. Das eine existiert nicht ohne das andere - es geht eben in beide Richtungen - weshalb wir uns und unsere Gesellschaft quasi ständig selbst produzieren. Damit ist - und das finde ich noch einen schönen Gedanken - auch der Gang der Geschichte in vielerlei Hinsicht offen.
…
Wollen wir also jetzt - wo wir den Historischen Materialismus erklärt haben - noch einen Blick auf das Thesenpapier vom Bündnis Marxismus und Tierbefreiung werfen. Dieses ist ja 2017 erschienen, und es vertritt grundsätzlich die Auffassung, dass Marxismus und Tierbefreiung zusammengehören. Das beinhaltet zwei Grundthesen: Einerseits, dass die Marxist:innen antispeziesistisch sein sollten - sich also auch mit den Tieren solidarisieren sollten - und andererseits, dass eben auch die Tierrechtler:innen auch marxistisch sein sollten. Uns interessiert hier v.a. die zweite These, da diese ja uns als Bewegung betrifft.
Wieso sollten wir als Tierrechtler:innen also marxistisch sein müssen?
Es hört sich erstmal etwas abgehoben an, so als These, zumal ja auch die Bezeichnung “marxistisch” eine gewisse, abschreckende Wirkung haben kann. Wenn wir an Marx denken, denken wir meistens gleich an so Stichworte wie Arbeiterklasse, Revolution, Überwindung des Kapitalismus, etc. - was erstmal etwas abgedroschen und nicht sehr zeitgemäss klingt. Man muss aber wissen, dass hinter Marx noch sehr viel mehr steckt - nämlich eine ganze Philosophie, die gerade heute ein Revival erlebt - und die man auch unabhängig von den klassischen Assoziationen betrachten kann.
Wenn das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung also sagt, dass wir als Tierrechtler:innen marxistisch sein müssen, meint es in erster Linie, dass wir uns mit den Thesen von Marx auseinandersetzen sollten - nicht unbedingt, dass wir gleich auf die Barrikaden gehen und Revolution machen müssen. So habe ich das zumindest verstanden.
Und eine dieser Thesen, vielleicht die wichtigste im Zusammenhang mit der Tierbefreiung, ist eben der Historische Materialismus. Dementsprechend könnte man die Kritik von Bündnis Marxismus und Tierbefreiung etwas relativieren, indem man sagt: Es geht ihnen v.a. darum, dass wir als Bewegung keinen Bezug zum Historischen Materialismus haben - und dieser ist ihrer Meinung nach eben essentiell, um die Beziehung von Tier und Mensch zu erklären.
Aber von vorne: Wen genau kritisiert das Bündnis eigentlich, wenn es von “der” Tierrechts- oder Tierbefreiungsbewegung spricht?
Unsere Bewegung ist ja, gerade im deutschsprachigen Raum, keine einheitliche. Man kann jedoch sagen, dass es darin gewisse dominante Strömungen gibt, also politisch-theoretische Strömungen, die sowohl Moralphilosophie, Rechtskritik und Herrschaftskritik beinhalten. Bei allen ist der Begriff Speziesismus sehr wichtig, also die ideologische Vorstellung, dass unsere menschliche Spezies “mehr Wert” ist als die der Tiere.
So geht z.B. die antispeziesistische Moralphilosophie geht der Frage nach, warum zwischen dem Leiden der Tiere und dem der Menschen Unterschiede gemacht werden, und sie deckt dabei Widersprüche in unserem Denken auf. Aus diesen Widersprüchen - z.B., dass eben auch Tiere Intelligenz und Bewusstsein haben - folgert sie, dass das Leiden der Tiere dem der Menschen gleichwertig ist, und wir dementsprechend handeln sollten. Wieso wir es dann doch machen, liegt - gemäss Moralphilosophie - eben am Speziesismus, und dieser gemäss Moralphilosophie eben wiederum in unserem Denken verwurzelt.
Genau HIER setzt nun das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung mit seiner Kritik an. Es bezweifelt, dass der Speziesismus NUR in unserem Denken verwurzelt ist und betont, dass wir dessen Ursachen ebenso in unserer Geschichte suchen müssen. Ich zitiere aus dem Thesenpapier:
“Die bürgerliche Moralphilosophie kann uns sagen, welche Denkformen begründen, warum Menschen in Schlachthäusern nicht umgebracht werden und warum das Schlachten im Falle der Tiere nicht unterlassen wird. Aber über Ursprung und Funktion der Tierausbeutung (...) und darüber, zu welchem ZWECK die Tiere darin umgebracht werden - kann sie nichts Substanzielles beitragen. Sie reduziert all diese Fragen auf abstrahierte, individuelle Akte, Ansichten und Verhaltensweisen, die völlig losgelöst vom Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden.”
Wir halten also fest: Dem Bündnis Marxismus und Tierbefreiung geht unsere ethisch- moralische Analyse des Speziesismus nicht weit genug. Es anerkennt zwar die Wichtigkeit der Erkenntnisse, die die Moralphilosophie aufzeigt, kritisiert aber gleichzeitig, dass diese keine konkreten Erklärungen für die Ausbeutung der Tiere liefert. Statt sich mit der Tatsache zufrieden zu geben, dass es den Speziesismus nun einmal gibt - und dass er die Ursache unseres Verhaltens gegenüber Tieren ist - will das Bündnis wissen: Wie kommt es dazu? Wie hat sich unser ideologisches Denken gegenüber den Tieren entwickelt, und wie kamen wir überhaupt dazu, sie als “Eigentum” zu betrachten?
Ihre Antwort hat wiederum viel mit dem historischen Materialismus zu tun, welcher ja besagt, dass unser heutiges Denken auch von unserer Geschichte, bzw. unserer Entwicklung als Gesellschaft geprägt ist. Insofern spielt natürlich der Kapitalismus eine grosse Rolle, denn dieser hat unsere gesellschaftliche Entwicklung extrem geprägt. Auch wenn wir in der westlichen Welt die negativen Auswirkungen weniger spüren als die Ausgebeuteten im globalen Süden, sind doch die meisten von uns immer noch lohnabhängig und damit Teil der Arbeiterklasse, die für ihre Rechte kämpfen muss, um zu überleben.
Was das mit den Tieren zu tun hat, formuliert das Bündnis wie folgt:
“Bei allen Unterschieden haben die Arbeiterklasse und die Tiere eine gemeinsame Geschichte, in der sie der herrschenden Klasse als Leidende, Erniedrigte, Geknechtete und Verlassene gemeinsam antagonistisch gegenüberstehen. Die einen als Subjekte, die anderen als Objekte der Befreiung.”
Dementsprechend bleibt, gemäss Thesenpapier, der Tierbefreiungsgedanke inkonsequent, wenn er sich der “historisch.materialistischen Kritik der Gesellschaft versperrt" - bzw. so tut, als hätte der Kapitalismus keinen Einfluss auf unsere Entwicklung gehabt. Um zu verstehen, warum wir Tiere ausbeuten, müssen wir erstmal verstehen, wieso wir eigentlich ausgebeutet werden - und, v.a., in wessen Interesse.
Denn - und das ist die Schlussfolgerung der Kritik - wenn wir die Tierausbeutung NUR als Ergebnis unseres eigenen, speziesistischen Denkens betrachten, liefern wir als Bewegung auch keine Lösungsansätze. Denn, so recht wir auch haben - wir können schliesslich nicht davon ausgehen, dass die Schlachter, Wurstfabrikanten, Tierversuchslabore und all ihre Lobbyisten ihr speziesistisches Denken ablegen - nur weil dies ethisch korrekt wäre.
Insofern - und da bin ich mit dem Bündnis einverstanden - müssen wir als Bewegung immer auch im Hinterkopf behalten, wer von der Tierausbeutung profitiert und in wessen Interesse es liegt, dieses Ausbeutungssystem aufrechtzuerhalten. Es reicht nicht, den Speziesismus nur als Problem zu definieren - wir müssen ihn auch in einen historischen Kontext setzen und uns fragen, wie wir die Strukturen unserer Gesellschaft ändern können.
…
Ich freue mich auf euer Feedback unter tierrechtsradio@gmail.com!
Comments