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Markus Wild über "Advancing 3R" und Tierversuche

Aus unserer Sendung vom 11.2.23: Markus Wild über Tierversuche und das nationale Forschungsprogramm “Advancing 3R” (Audiobeitrag unten).

Lieber Markus, im ersten Teil des Interviews möchten wir dich gerne etwas kennenlernen. Magst du dich kurz vorstellen?


Ja, vielen Dank, Robert. Das mache ich sehr gerne. Wir sitzen jetzt hier in meinem Büro an der Universität Basel. Hier bin ich Professor für Philosophie, und wir sind umgeben von Büchern. Auf der einen Seite gibt es Bücher zur Geschichte der Philosophie. Das ist ein Schwerpunkt meiner Forschung und meiner Lehre. Auf der anderen Seite gibt es viele Bücher zu Tier, Ethik und Tierkognition. Und das ist der zweite Schwerpunkt meiner Forschung und meiner Lehre.


Wie bist du überhaupt zur Philosophie gekommen? Und wie ist es dazu gekommen, dass du dich auch vertieft mit Ethik befasst hast?


Eigentlich ist es überraschend, dass ich Philosoph oder überhaupt Akademiker geworden bin. Ich komme aus einem ganz und gar nicht akademischen Umfeld. Man weiß ja, dass die Chance für nicht Akademikerinnen in der Schweiz, eine Promotion zu machen, etwa fünfmal geringer ist als für Leute aus akademischem Umfeld. Ich komme aus einem Hintergrund mit Landwirten und Bauern. Das heißt, ich kenne von meinen Großeltern, die beide Bauern waren, die Tierhaltung sehr gut. Ich kenne auch Hofschlachtungen. Ich kenne Metzger, das heißt im Herbst das Schlachten einer Sache und das Verkaufen der Würste und der Fleischwaren im Restaurant.


Mir ist das alles sehr vertraut. Trotzdem habe ich mich sehr schnell eher für Geschichte interessiert, für fiktionale Welten, für Romane, für abstrakte Fragen gibt es einen Gott usw.. Und zuerst wollte ich Pfarrer werden. Das war, glaube ich, um meiner Großmutter zu gefallen, die ist katholisch war. Dann wollte ich Geschichtsprofessor werden, und schließlich habe ich mich entschlossen, Primarlehrer zu werden. Das habe ich aber nicht gemacht, sondern am Ende des Primarlehrer Studiums Philosophie gefunden, als etwas, das mir hilft, meine Interessen zu bündeln. Und so bin ich Philosoph geworden.


Was beschäftigt dich als Mensch außerhalb der universitären Hallen?


Oh, vielerlei Dinge. Das eine, was mich beschäftigt, hat eigentlich direkt mit meiner Arbeit an der Uni zu tun. Das ist die Frage der Tierrechte, des Tierwohls. Ich engagiere mich auch politisch für Volksinitiativen. Ich bin bei Abstimmungen aktiv. Ich versuche auch durch Interviews oder populäre Artikel die Leute zu überzeugen, dass es in eine andere Richtung gehen sollte. Aber auch den Leuten, die sich schon engagieren, Mut zu machen und zu sagen, auch jemand aus dem Establishment steht hinter ihnen.


Wenn man sich heute in dieser Gesellschaft für Tiere stark engagiert, ist das ja keine leichte Sache. Ich glaube, es ist wichtig, auch diesen Menschen Stütze zu geben.


Das andere, was mich sehr beschäftigt, ist der Umgang mit Wahrheit in unserer Gesellschaft. Das ist ein Thema. Das ist mit den Stichworten Fake News und Social Media. Das ist für jemanden aus der Philosophie etwas sehr Wichtiges.


Und das dritte, was mich beschäftigt, ist ein überbordender Optimismus. Ich glaube, wir sind alle viel zu optimistisch. Wir sehen die Welt allzu rosa. Ich glaube, es fehlt uns eine gesunde Portion Pessimismus. Damit meine ich nicht eine depressive Einstellung, sondern ein eher realistischer Blick auf die Dinge. Und das schlechteste und gleichzeitig beste Beispiel dafür ist der Krieg in der Ukraine. Das ist das Ergebnis einer völligen Fehleinschätzung, wohin es gehört.


In deinen Vorlesungen, lieber Markus, zur Tierethik hast du es mit Menschen zu tun. Was sind deine Anliegen beim Vermitteln dieser Inhalte?


Die Anliegen sind die, die man als Philosoph oder Philosophin hat. Das heißt, das erste ist, man soll merken, wo die Probleme liegen. Und das Merken ist das erste. Man soll die bestehenden Argumente kennenlernen, ihre Stärken und Schwächen einschätzen können. Und man soll und das ist sehr wichtig und für die Philosophie glaube ich auch typisch eine Beziehung herstellen zwischen dem Merken, dem Argumenten und der eigenen Lebensweise. Das heißt, ich bin ein Vertreter der Auffassung, dass Philosophie nicht nur eine Wissenschaft ist, sondern dass Philosophie auch eine Art der Lebensführung sein sollte.


Das heißt, philosophische Argumente sollten auch einen Unterschied für mein Leben machen. Das ist nicht für alle Menschen gleich. Manche Menschen neigen dazu, kopfgesteuert zu sein, andere haben andere Interessen. Deshalb kann man das sehr schlecht generalisieren. Aber von Philosophen, Philosophinnen sollte man das erwarten.


Titus ist dein treuer hündischer Begleiter. Es gibt sogar eine Facebook-Seite von ihm. Wie bist du auf die Idee gekommen, einem Hund eine Stimme in den sozialen Medien zu geben? Und worüber spricht Titus?


Titus ist jetzt auch in meinem Büro. Er schläft hier gerade unter dem Tisch. Er ist auch ganz ruhig. Vermutlich, weil ich Hochdeutsch spreche. Das heißt, er merkt - weil er in den Vorlesungen und Seminaren dabei ist - wenn die Stimmung wechselt, meine Sprache wechselt und die Leute werden ruhiger. Also ist nicht Titus Time, sondern es geht um etwas anderes. Es gibt zwei Dinge, die ich mit ihm mache. Ich nehme ihn fast überall mit, und das ist eine Idee, die ich von Will Kymlicka und Sue Donaldson habe. Diese Idee, dass Tiere im öffentlichen Raum präsent sein sollen. Dann nimmt man den Raum anders wahr und man hat auch immer einen Fall vor Augen. Ein Tier, wenn man darüber nachdenkt. Das erdet sozusagen die Überlegung und ändert auch die Wahrnehmung.


Das mit der Facebook-Seite ist aus einem Scherz entstanden. Vor einigen Jahren haben meine Mitarbeiterinnen sich über etwas ausgetauscht. Ich wusste nicht, worum es geht und sie sagten mir: “Du musst halt auf Facebook, dann weißt du auch, worüber wir sprechen." Dann habe ich gesagt, das mache ich nicht. Und ein Mitarbeiter hat dann gesagt: "Dann mach' doch eine Seite für Titus". Und ich habe das dann meiner Frau erzählt, sie fand das eine witzige Idee. Und dann haben wir diese Seite aufgeschaltet. Und Titus berichtet darin eigentlich über Dreierlei: Über seinen Alltag, weil er ja sehr viel unterwegs ist, mit mir auch immer in den Urlaub mitkommt. Zweitens berichtet er über tierethische Sachen und drittens äußert er sich hin und wieder zur Schweizer Politik, sagen wir mal eher von linksliberaler Seite (lacht).


Nachdem wir dich etwas besser kennengelernt haben, kommen wir zum Thema Tierversuche. Du selbst bist ja Forschungsrat im Schweizerischen Nationalfond (SNF). Dort wurde letztes Jahr ein neues Programm lanciert, "Advancing 3R". Was bedeutet das genau und inwiefern wird das jetzt gefördert?


Ja, das sind eigentlich zwei Fragen. Was bedeutet 3R und was steckt hinter diesem nationalen Forschungsprogramm in der Schweiz? 3R ist eigentlich eine alte Idee. Das haben in den 1950er Jahren zwei britische Naturwissenschaftler entwickelt. Und der Hintergrund war für diese beiden, dass sie die Tierversuche, wie es damals und heute noch hieß, humaner gestalten wollen. Und dafür haben sie das Prinzip der 3R erfunden.


Und mit diesen 3R ist gemeint, dass man Tiere möglichst auch Alternativen ersetzen soll. "Replace" ist das erste R. Als zweites ist gemeint, dass man die Anzahl der Tiere verringern soll, die man braucht. Das ist das zweite R ("reduce"). Und drittens ist gemeint, dass man die Methoden, die man benutzt, um Tierversuche zu machen, verfeinert, das heißt weniger belastend für die Tiere macht ("refine"). Das sind diese 3R. Und die Reihenfolge ist auch nicht zufällig. Das wichtigste Ziel ist das Ersetzen von Tieren durch Alternativen, dann die Verkleinerung der Zahl und die Verfeinerung der Mittel, wenn man dann schon Tiere braucht.


Jetzt ist es so, dass diese 3R sind nicht nur abstraktes Buchwissen sind; eigentlich sind sie in der Schweiz, aber auch in den anderen Ländern Europas (vom Kontinent, nicht vom politischen Europa) die Tierversuchenden verpflichtet, diese 3R zu beachten.


Das hat auch ein bisschen genützt. Die Zahlen sind zurückgegangen. Das hat man in der Schweiz auch gesehen. Aber die Zahlen der Tiere, die gebraucht werden, die bleiben eigentlich seit vielen Jahren gleich. Also die Kurve ist sozusagen flach geworden. Und das heißt, offenbar ist da noch Potenzial, die Zahlen zu verringern, weniger Tiere zu benutzen, Alternativen zu finden und auch die Methoden zu verfeinern. Und die 3R sind eigentlich ein Konzept, das auch rechtlich relevant ist, das man mehr pushen muss, weil es ist noch zu wenig in Gesellschaft, Wissenschaft und Industrie bekannt ist.


Und das ist jetzt der zweite Punkt der Frage, dieses nationale Forschungsprogramm. "Advancing 3R", also diese 3R voranbringen, das hat genau dieses Ziel. Das ist eine spezielle Schweizer Geschichte; es hat eine Vorgeschichte, dieses Forschungsprogramm. In der Schweiz wurden immer wieder Abstimmungen gemacht über das Verbot von allen Tierversuchen. Das gibt es in der Schweiz seit 100 Jahren. Etwa diese Abstimmungen, die immer zu großen Diskussionen führen und die Abstimmungen werden dann verloren. Aber diese Abstimmungen sind ja eine Volksinitiative. Das heißt, in einer Volksinitiative geht es nicht nur darum, zu gewinnen. Es geht auch darum, zu zeigen: Ausreichend viele Leute sind unzufrieden mit der Situation.


Ob das jetzt 20, 25, 30 oder 35 % sind, macht keinen Unterschied. Und die Schweizer Regierung hat das ernst genommen und gesagt: Okay, viele Leute sind unzufrieden. Also beauftragen wir den Schweizer Nationalfonds, die Forschungsförderung, ein Programm zu machen und mit den drei Rs vorwärts zu machen. Es ist also letztlich auch Folge der politischen Initiative. Die wurde ja abgelehnt. Das Schweizer Volk wollte das nicht, aber der Bundesrat hat das gehört. Und jetzt gibt es für fünf Jahre Geld, um an drei Dingen zu forschen.


Das erste ist Innovation: Neue Dinge, Alternativen erfinden. Das zweite ist die Implementierung. Diese neuen Dinge auch wirklich in die Forschung einbringen, das ist fast das Schwierigste. Und das dritte ist Ethik und Gesellschaft. Da ist das Ziel, die ethischen Grundlagen davon zu diskutieren, aber auch das Prinzip bekannter zu machen. Weil ich glaube, die meisten Leute kennen das eigentlich nicht wirklich und wissen nicht mal, dass wir wirklich eine gesetzliche Pflicht haben, das zu bewerten.


Wie ist denn die Situation heute? Gibt es in der Schweiz noch viele Tierversuche?


Es ist immer schwierig zu sagen "viele". Es kommt darauf an, von wo aus schauen wir aus der Perspektive von den 70er und 80er Jahren gibt es sehr viel weniger Versuche. Also die Zahl ist gesunken. Aus der Perspektive des Wünschenswerten gibt es zu viele. Und ich glaube, das stimmt für Tierrechtlerinnen, stimmt aber auch für viele Wissenschaftler, die für Tierversuche sind. Viele wollen das eigentlich reduzieren, aber die Strukturen sind sehr zäh. Man hat Zuchtinstitutionen, wo man Mäuse oder Ratten züchtet und die Strukturen gehen eigentlich in die Tierrichtung. Das heißt, es braucht natürlich eine gewisse Energie, um da in andere, andere Richtung zu gehen.


Interessant ist auch, dass die Industrie weiter ist als die Wissenschaft. Die Industrie ist beweglicher, ist auch sensibler gegenüber öffentlicher Kritik und dergleichen. Das heißt, es gibt aus meiner Sicht - und die ist eigentlich eher die eines Tieretikers - nach wie vor zu viele Tierversuche. Wir müssen die Zahlen runterbringen, und dieses 3R sind ein gutes Mittel. Es gibt aber eine ganz offene Frage bei den 3R: Was ist das Ziel der 3R?


Da gibt es zwei Optionen. Das Ziel könnte sein, dass es hier ein Ausstiegsszenario gibt aus Tierversuchen überhaupt. Holland hat mal so einen Plan gemacht. Das Zweite ist, dass man sagt: "Nein, 3R wird nie das Ziel haben, Tiere ganz zu ersetzen". Und dann sagt man dann so Dinge wie: "Ein lebendiger Organismus ist viel zu kompliziert. Niemals wird das ersetzt werden können". Diese zweite Meinung, gegenüber der bin ich skeptisch. Ich halte sie für nicht wissenschaftlich genug, sie ist sehr dogmatisch. Dass man sagt, das wird "niemals" passieren.


Ich glaube, man sollte sehr viel ergebnisoffener sein und sich trotzdem auch schon Pläne machen. Wie könnte ein Ausstiegsszenario Schritt für Schritt aus Tierversuchen aussehen?


Was für Projekte werden im Rahmen dieses Forschungsprogramms unterstützt?


Es sind sehr viele verschiedene Projekte aus der Natur und aus den Geisteswissenschaften. Die sind teilweise sehr technisch. Das heißt, ich versuche jetzt einfach drei sehr oberflächliche Beispiele zu geben. Ein sehr wichtiges Beispiel ist, dass man versucht, künstliche Lungen von Fischen zum Beispiel herzustellen oder künstliche Gehirne, sodass man nicht mit lebendigen Tieren arbeiten muss, sondern bestimmte Dinge diesen künstlichen Gehirnen und künstlichen Lungen reproduzieren kann.


Das klingt einfacher, als es ist. Das ist eine sehr komplizierte Sache, diese künstlichen Organe herzustellen, und - das vergisst man immer - es braucht auch einen Standard, wie mit dem dann genau ein Versuch durchgeführt werden muss. Also das erste ist die Herstellung der Alternative. Das zweite ist, das soweit zu einem Standard zu machen, dass es auch benutzt werden kann, sozusagen seriell. Das ist eine sehr interessante Sache.


Das andere ist, dass man versucht, eine bestimmte Art von Knochenkrankheiten zu simulieren, im Computer oder durch Modelle, so dass man diese Knochenkrankheiten an diesen künstlichen, computergenerierten oder Modellen untersuchen kann und dazu keine Tiere braucht. Das ist die naturwissenschaftliche Seite.


Auf der Seite des Geistes und der Sozialwissenschaften geht es darum: Wer hat eigentlich alles ein Interesse daran, die Tierversuche in eine andere Richtung, richtung 3R, zu bringen? Und da geht es darum, die "Do's and Don'ts" und die Werte dieser Gruppen herauszufinden, um miteinander Schnittmengen zu finden. Das sind die sogenannten Stakeholders: Wissenschaftler, Politikerinnen, Aktivistinnen usw. Was ist der gemeinsame Punkt, wo man sagen kann: Hier können wir Fortschritte machen?


Und dann natürlich, was ich persönlich sehr wichtig finde, das Recht. Haben wir eine einheitliche rechtliche Grundlage für die 3R. Da ist, glaube ich, die Forschung aus der Rechtswissenschaft enorm wichtig. Und auch dazu gibt es ein Projekt.


Wie siehst du die Zukunft der Tierversuche bzw. was versprichst du dir von diesem Forschungsprogramm?


Von diesem Forschungsprogramm verspreche ich mir eigentlich drei Dinge. Das erste ist, dass die Idee von 3R in Politik und Gesellschaft bekannter wird, dass es eine Grundlage wird, um über unsere Nutzung von Tieren nachzudenken und konkrete Ausstiegsszenarien aus der Tiernutzung zu entwickeln. Wenn es nicht ganz geht, geht es halt nicht ganz. Aber wir brauchen Ausstiegsszenarien. Das muss jedem eigentlich klar sein, der sich zum Beispiel über Klimafragen Gedanken macht.


Das zweite, was ich mir verspreche, ist ein einheitlicher Rahmen, in dem sich die verschiedenen Interessengruppen einigen können und sagen: "In diese Richtung wollen wir weitermachen. Wir haben es jetzt mit Totalverboten versucht, mit polarisierenden Diskussionen. Wir müssen dringend Fortschritte machen, auch wenn es halt nur second best Fortschritte sind." Und - last but not least - verspreche ich mir einfach gute Alternativen zu Tierversuchen, die sich bewährt haben und die dann tatsächlich von den Forschenden auch genutzt werden.


Danke!



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