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Kommentar: Silvesternacht in Berlin

Writer's picture: ninalurmanninalurman

Updated: Jan 27, 2023

Aus unserer Sendung vom 14.01.2023. Beitrag von @ninajlurman.


Seit 2 Wochen redet ganz Deutschland über nichts anderes: In der Nacht vom 31.12. ist die Situation mit den Feuerwerkskörpern in mehreren Städten eskaliert, auch in Berlin. Dort wurden u.a. mehrere Einsatzwagen angegriffen - also Polizeiautos, Löschfahrzeuge und Ambulanzen - und nach Angaben der Polizei 145 Menschen verhaftet. Die meisten von ihnen waren Jugendliche mit Migrationshintergrund.


Inzwischen sind alle wieder auf freiem Fuss, denn ernsthaft verletzt wurde zum Glück niemand - aber die öffentliche Diskussion geht weiter. Besonders die rechten Medien freuen sich, wie 2015 bei der Kölner Silvesternacht - über ein gefundenes Fressen. Damals waren es die sexuellen Übergriffe, die man der “fremden Kultur” in die Schuhe schieben konnte, dieses Mal waren es die “gezielten Angriffe” auf unsere Rettungskräfte.


Um das rechte Narrativ in diesem Kontext zu veranschaulichen, möchte ich euch einen kurzen Ausschnitt aus dem Youtube-Format “Achtung, Reichelt” vorspielen. Es handelt sich dabei um eine Sendung von Julian Reichelt, rechtspopulistischer Boulevard-Journalist und ehemaliger Chefredakteur der BILD Zeitung.



Das war ein Ausschnitt aus der Sendung “Achtung, Reichelt” und dem Youtube-Video “Jung, männlich, gesetzlos: Migranten wüten an Silvester in unseren Städten - der Staat kapituliert”. Schon am Wortlaut des Titels ist unschwer zu erkennen, dass es sich hierbei um die wenig subtilen Beobachtungen eines rechtspopulistischen Boulevard-Journalisten handelt.


Nun wäre das an sich ja nichts Neues, dass der Ex-Chef der BILD Zeitung solche Videos macht, bzw. eine solche Politik vertritt. Aber wir hatten uns ja in der letzten Sendung mit der Frage auseinandergesetzt, was eigentlich “links” und “rechts” bedeutet, und hier bietet sich nun die Möglichkeit, das noch einmal an einem ganz konkreten Beispiel aufzuzeigen.


Einerseits ist es natürlich das rechte Narrativ, das ins Auge springt: Julian Reichelt macht schon im ersten Satz klar, wo er die Ursache des Problems vermutet. “Es sind Szenen wie aus einem anderen Land”, sagt er, und impliziert damit, dass solche Ausschreitungen in anderen Ländern normal seien. Das unterstreicht er dann auch mit der Aussage eines Jugendlichen, der sagt, dass er aus Syrien komme und bei solchen Szenen Heimatgefühle habe. Ein schlechter Witz, in der Tat, der aber auch zum Nachdenken bringen könnte.


Jedenfalls geht’s dann weiter mit einem anderen Jugendlichen aus Frankfurt, der ebenfalls Migrationshintergrund hat und völlig gehypt ins Mikrofon schreit.Ich wiederhole mal und schicke eine Triggerwarnung wegen harter Sprache voraus. Der junge Mann sagt, oder besser schreit also ins Mikrofon: “Ich bin hier, ich kiff, ich koks, ich mach alles! Was geht ab, Alter!” - Als der Reporter ihn fragt, ob sie keinen Respekt vor der Polizei haben, meint er: “Die Polizei kann unsere Eier lecken, nique la police, frérot!”. Und auf die Frage, warum sie denn nur Jungs seien, meint er: “Die Mädchen haben wir schon gebumst, Alter, jetzt ist Moët -Champagner, das könnt ihr euch nicht leisten, Alter!'' …


Es geht also ums Kiffen, ums Koksen, um Fuck the Police. Um teuren Champagner und um Sex. Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Sagt nicht jeder zweite Gangster-Rapper das in jedem zweiten Video? Und sind es nicht auch - mal abgesehen vom Hass auf die Polizei - genau die Themen der superreichen Börsenmakler in “Wolf of Wall Street”?


Mein Punkt ist: Die “Werte”, die dieser Jugendliche hier vertritt, sind nicht die Werte einer fremden Kultur, wie es Reichelt impliziert - sondern doch vielmehr die des Kapitalismus! Es geht offensichtlich ums Reichsein, ums Provozieren, ums besser zu sein als andere. Ums Angeben vor seinen Freunden und, natürlich, ums Cool sein. Das soll gerade den Sexismus in seinen Aussagen natürlich nicht rechtfertigen: Es ist extrem scheisse, so über Frauen zu reden - aber die Frage, ob das in diesem Kontext relevant oder nicht eher einfach ein “Kollateralschaden” ist.


Ich persönlich finde es wichtiger, hier die Frage nach den Ursachen zu stellen. Wie kommt es, dass dieser junge Mann so einen Scheiß rauslassen muss, um cool zu sein? Woher kommt dieser ganze Frust, diese ganze Wut, die sich da in der Silvesternacht entladen hat - und warum scheint sie v.a. bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund aufzutreten?


Es gibt also - einfach gesagt - zwei Arten, diese Fragen zu beantworten: Die Linke und die Rechte. Die Linke, die ja von der Gleichheit der Menschen ausgeht, würde die Ursachen bei den sozialen Umständen suchen. Die Rechte, die von einer inhärenten Ungleichheit der Menschen ausgeht, würde die Ursachen in der jeweiligen Kultur suchen - in dem also, das angeboren und unveränderbar ist. Um es nochmal runterzubrechen, kann man sich fragen - was trifft eher zu? Sind diese Jugendlichen asozial geboren oder sind sie so geworden?


Sofern wir einverstanden sind, dass niemand asozial geboren wird, müssen wir also die Frage nach den sozialen Umständen stellen. Das braucht manchmal etwas Überwindung, weil es immer einfacher ist, auch sein Bauchgefühl zu hören - v.a. wenn in den Medien so viel Angstmacherei und Hetze betrieben wird. Aber es lohnt sich: Denn wenn wir einmal verstanden haben, was wirklich die Ursachen von unseren Problemen sind - können wir aufhören, Symptome zu bekämpfen und nach Lösungen suchen, die tatsächlich nachhaltig sind. Dann können wir vielleicht wirklich etwas verändern.


Wenn wir also - im Kontext der Silvesternacht - die Ursache bei den sozialen Umständen suchen, landen wir schnell bei den Tatsachen: Kinder von Migrant:innen, v.a. der ersten Generation, haben oft nur sehr wenig Perspektiven: Sie wurden noch als Kinder ihrer Heimat entrissen, weil sie fliehen mussten, oder sind in einem von Trauma geprägten Elternhaus aufgewachsen. Die Eltern hatten oft nur sehr wenig Zeit für sie, weil sie ständig arbeiten - sich ausbeuten lassen mussten - um die Familie durchzubringen. Und das dann meist auch noch in den Scheissjobs, die eben meist Migrant:innen abkriegen. So wachsen die Kinder, auf sich allein gestellt, in einer Gesellschaft auf, die sie von Anfang an lehrt: Du musst es zu etwas bringen, du musst Geld verdienen, wenn du jemand sein willst. Gleichzeitig sehen sie aber die Eltern, die es zu nichts bringen - egal, wie sehr sie sich abrackern - die weiterhin ausgegrenzt und benachteiligt werden. Schmeisst man da jetzt noch die Popkultur rein, die Gangsterrap-Vorbilder und die Tatsache, dass sie quasi vom Internet erzogen werden, ist die Frustration nicht mehr weit. Man will nicht so enden wie die Eltern und ist dann als Jugendlicher eben schnell mal lieber Gangster - als Loser.


Für mich ist es absolut unverständlich, wie man diese Umstände - aus rechter Perspektive - einfach ausklammern kann. Kommt noch dazu, dass wir als “Westen” viel dazu beigetragen haben, dass diese Menschen überhaupt erst flüchten mussten. Gerade die arabischen und muslimischen Länder werden von uns, v.a. von der USA, aber auch von den NATO-Ländern, schon seit Jahrzehnten bombardiert - die Auswirkungen davon merkten wir spätestens 2015 in der grossen Flüchtlingswelle. Wie wäre es also, statt “fremde Kulturen” zu beschuldigen, einmal damit, unsere eigene Politik zu hinterfragen? Wo fliesst unser Geld hin, wohin unsere Waffen, wer profitiert davon und vor allem: Wer sind die Opfer?


Diese Fragen werden uns auch beim Tierrechtsradio weiterhin beschäftigen. Heute will ich, abschliessend, aber nur noch Folgendes dazu sagen: Was in Berlin in der Silvesternacht passierte, war mitnichten Ausdruck einer “entfesselten” migrantischen Kultur - sondern es war Ausdruck einer Frustration, die sich unter den gegebenen Umständen früher oder später entladen musste.Insofern wurden auch die Rettungsfahrzeuge - meiner Meinung nach - nicht angegriffen, weil es Rettungsfahrzeuge waren, sondern weil sie einfach da waren.


“Es hat sich etwas verändert in unserem Land”, wie auch Julian Reichelt schon sagt - aber es sind nicht die Migrant:innen, die sich immer schlechter integrieren. Es ist die Tatsache, dass wir immer mehr die Auswirkungen unseres eigenen Versagens zu spüren bekommen. Die Wut der Benachteiligten - derjenigen, die es eben nicht schaffen können - wird sich auch weiterhin entladen. Und es wird noch viel schlimmer werden, solange die Armut wächst, solange Menschen ausgebeutet werden und wir nichts an diesem System ändern.


Shoutout an dieser Stelle noch an den Streamer und Youtuber Proletopia, der mich zu diesem Kommentar inspiriert hat: https://www.youtube.com/@PROLETOPIA/videos.



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